Kubismus: Die Zerlegung der Welt

Kubismus: Die Zerlegung der Welt
Kubismus: Die Zerlegung der Welt
 
Der Kubismus ist vermutlich derjenige Stil der Moderne, der am radikalsten mit allen vorangegangenen Traditionen der Malerei brach und die weitere Entwicklung der Kunst am nachhaltigsten beeinflusste. Dabei war es zunächst nur ein kleiner Kreis von Künstlern in Paris, der Hauptstadt der Kunst seit dem 19. Jahrhundert, in dem sich die ersten Ansätze zu einer vollständigen Abkehr von der Vergangenheit bemerkbar machten.
 
Mitte 1907 vollendete Pablo Picasso sein Gemälde »Les Demoiselles d'Avignon«, eines der Schlüsselbilder des anbrechenden 20. Jahrhunderts. In diesem großformatigen Werk, das in Anlehnung an die Außenseiterthemen der »blauen Periode« Picassos eine Bordellszene darstellt, verbinden sich formale Charakteristika der von Picasso bewunderten afrikanischen Kunst mit einer neuen innerbildlichen Räumlichkeit. Damit verabschiedete sich Picasso gleich von zwei Grundvoraussetzungen der traditionellen Malerei: der klassischen Norm für die menschliche Gestalt und dem Raumillusionismus der Zentralperspektive. Bedeutender als die Verzerrung der Figuren war allerdings die Verzahnung von im Raum getrennten Flächen. Für deren Gestaltung ließ sich Picasso von Paul Cézanne anregen, der in der Malerei die Natur auf geometrische Körper zurückgeführt hatte. Picassos Vorstoß war selbst seinen engsten Freunde nicht geheuer. So schildert etwa Georges Braque, die »Demoiselles d'Avignon« hätten auf ihn gewirkt, als »ob man einen Schluck Terpentin zu trinken bekomme«; zugleich war er aber so tief beeindruckt, dass er als Antwort auf dieses Bild einen »Großen Akt« in ähnlichem Stil malte.
 
Für beide Künstler begann nun eine intensive Zeit der Zusammenarbeit, des Experimentierens und ständigen Gedankenaustauschs. Obwohl Picasso im Sommer 1908 in La Rue-des-Bois nahe der nordostfranzösischen Stadt Creil, Braque im weit entfernten L'Estaque bei Marseille malte, gelangten beide zu überraschend ähnlichen Ergebnissen. Die Landschaften und Figuren beider Maler sind in dieser Zeit durch extreme Formvereinfachung, asketische Reduktion auf Braun- und Grüntöne und eine flächige Gestaltung des Raums gekennzeichnet. Als Braque seine Bilder im Herbst 1908 in der Pariser Galerie Kahnweiler ausstellte, berichtete der Kunstkritiker Louis Vauxcelles spöttisch über »kleine Kuben« und gab so der neuen Stilbewegung ihren zunächst noch abfällig gemeinten Namen.
 
Im Lauf der nächsten Jahre wurden die Bilder von Braque und Picasso immer abstrakter und gegenstandsferner, obwohl beide immer noch vor dem Motiv - bevorzugt Stillleben und Porträts - arbeiteten. In den Bildnissen der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler und Ambroise Vollard, die Picasso um 1910 malte, sind die Formen so weit zersplittert, dass ein Wiedererkennen der Person unmöglich ist. Unter Ausschaltung aller Lokalfarben und Buntwerte konzentrierten sich Picasso und Braque in dieser Phase, der des »analytischen Kubismus«, nur auf das Hell-Dunkel, das sie vorwiegend in Brauntönen wiedergaben, sowie auf die Facettierung und Fächerung der Form, welche die vielen Ansichten eines Objektes spiegeln, die sich bei dessen Umschreiten ergeben. Dieses Verfahren wurde vor allem von zwei jüngeren Malern vertreten, Albert Gleizes und Jean Metzinger, die in ihrem Buch »Über den Kubismus« (1912) eine umfassende, mit philosophischen Exkursen versehene Abhandlung über den Sinn der kubistischen Gestaltung veröffentlichten. Die darin vorgestellten Begriffe von »Simultaneität« und »vierter Dimension« kursierten zwar damals als Schlagworte in den Ateliers der Kubisten, hatten aber im Grunde für die Malerei selbst kaum eine Bedeutung.
 
Der analytische Kubismus erreichte seinen Höhepunkt mit den Ende 1911 und Anfang 1912 entstandenen Bildern von Braque und Picasso, die mithilfe einer einzigen Figur ein kompliziertes Zusammenspiel und Ineinandergreifen von Flächen und Formen darstellen. Der Gefahr einer vollkommenen Abstrahierung und Unkenntlichmachung des gegenständlichen Motivs begegneten Picasso und Braque aber mit einem genialen Kunstgriff. Bereits im Frühjahr 1911 hatte Braque damit begonnen, realistisch gemalte Nägel, Wörter, Buchstaben und Zahlen in seine Kompositionen einzufügen, um einen bestimmten, motivisch bedingten Bezug zur Wirklichkeit herzustellen. Im Frühjahr 1912 fügte dann Picasso ein Stück Wachstuch, das wie ein Rohrgeflecht gemustert war, in ein Stillleben ein und deutete damit einen Stuhl an, ohne auf traditonelle Darstellungsmethoden zurückgreifen zu müssen. Im September des gleichen Jahres klebte dann Braque mit einer Holzmaserung versehene Tapetenstücke in ein Stillleben mit Fruchtschale und Glas. Diese ersten Collagen wiesen dem Kubismus eine neue Richtung, wurden aber auch eine unerschöpfliche Quelle für die gesamte Kunst des 20. Jahrhunderts.
 
1911 breitete sich der Kubismus über den engeren Freundeskreis von Picasso und Braque aus, er wurde eine Schule mit vielen Anhängern. Kunstkritiker wie André Salmon oder Guillaume Apollinaire, seit 1905 ein Vertrauter Picassos, trugen zweifellos zur Ausbreitung des neuen Stils bei. Auch die »Theoretiker« des Kubismus, Metzinger und Gleizes, verbreiteten die kubistischen Ideen, wobei sie allerdings von der sich eher intuitiv entwickelnden Malerei Picassos und Braques bestimmte Regeln ableiteten, die in der Folge zu einer akademischen Verflachung des Kubismus führen sollten.
 
Die erste offizielle Manifestation der kubistischen Bewegung war der Pariser Herbstsalon von 1911. Im Saal 41 wurden Bilder von Gleizes, Metzinger, Robert Delaunay, Fernand Léger, Jacques Villon, Marcel Duchamp, Francis Picabia, Henri Le Fauconnier, Roger de La Fresnaye und anderen kubistischen Künstlern gezeigt - und wie nicht anders zu erwarten - von der Kritik heftig geschmäht. Einige dieser Maler entwickelten dabei aus dem Kubismus bereits eine ganz eigenständige Bildsprache - etwa Léger und Delaunay, die ihre Bilder auf Farb- und Formkontrasten aufbauten. Andere arbeiteten konsequent im kubistischen Stil weiter, versuchten aber die hermetische Strenge durch neue Themen aus der Großstadt und durch futuristische Bewegungsmotive aufzubrechen. Die Ausstellung, die diese Maler - unter ihnen Gleizes, Metzinger, Léger, La Fresnaye, Duchamp, Villon, Louis Marcoussis und Auguste Herbin - unter der Bezeichnung »Section d'Or« (»goldener Schnitt«) in der Pariser Galerie la Boëtie veranstalteten, war die wichtigste Gesamtdarstellung des Kubismus, obwohl gerade hier ihre Begründer fehlten.
 
Der Kubismus hatte jetzt bereits ein Stadium erreicht, in dem sich unterschiedliche Richtungen abzeichneten. Der eloquente Kunstschriftsteller Apollinaire sprach daher bereits von einem »viergeteilten Kubismus«, der fast die gesamte damalige Avantgarde vereinnahmte. Einer der scharfsinnigsten Künstler dieser Aufbruchszeit der Moderne, Marcel Duchamp, schuf mit seinem Bild »Akt, eine Treppe hinuntersteigend« (1912) die Inkunabel des weitergedachten Kubismus. Nur wenig später folgte mit den ersten »Objets trouvés« Duchamps Absage an die »retinale Malerei«, die seiner Ansicht nach nur die weniger begabten Nachläufer des Kubismus praktizierten.
 
Auch Picassos und Braques Kunst veränderte sich im Lauf des Jahres 1912 und entwickelte sich zum »synthetischen Kubismus«. Das wichtigste, bisher vernachlässigte Mittel, die Farbe, wurde nun in kraftvollen Kontrasten wieder eingeführt. Die aufgesplitterten Formen wurden zu größeren Einheiten zusammengefasst und die Vielansichtigkeit des Gegenstandes durch zeichnerische Mittel, aber auch durch Arabesken und Elemente der Collage betont. Meisterhaft vereinte der 1906 nach Paris zugewanderte spanische Maler Juan Gris diese neuen Bildmittel in seinen Gemälden. Indem der späte Kubismus ein Gemälde als ein vom Motiv weitgehend unabhängiges, autonomes Gebilde auffasste, ebnete er den Weg für die abstrakte Malerei.
 
Der kubistische Stil setzte sich sehr schnell nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Skulptur und der Architektur Europas durch. Bereits Picasso und Braque hatten mit plastischen Objekten, Reliefcollagen und Drahtplastiken experimentiert. Alexander Archipenko arbeitete ab 1911 an dreidimensionalen Objekten, den »Skulptomalereien«. Ausgehend vom Werk Picassos und Braques, schuf der wohl bedeutendste Bildhauer des Kubismus, Jacques Lipchitz, anthropomorphe Skulpturen, die von facettierten Flächen und rhythmischen Kontrasten aus Kurve und Linie bestimmt sind. In weniger als zehn Jahren hatte der Kubismus die gesamte europäische Kunst revolutioniert, bevor er dann von nachfolgenden Künstlern überwunden wurde.
 
Dr. Hajo Düchting
 
 
Dokumente zum Verständnis der modenen Malerei, herausgegeben von Walter Hess. Bearbeitet von Dieter Rahn. Neuausgabe Reinbek 1995.
 Fry, Edward: Der Kubismus. Aus dem Englischen und Französischen. Köln 21974.
 
Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915—1932, herausgegeben von Bettina-Martine Wolter und Bernhart Schwenk. Ausstellungskatalog Schirn-Kunsthalle Frankfurt. Frankfurt am Main u. a. 1992.
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Kubismus — Ku|bịs|mus 〈m.; ; unz.; Mal.〉 Richtung des Expressionismus in Malerei u. Plastik, die die kubischen Formen der Natur besonders hervorhob [→ Kubus] * * * Ku|bịs|mus, der; (Kunstwiss.): Kunstrichtung des frühen 20. Jh.s, die durch Auflösung des… …   Universal-Lexikon

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